erinnert von Peter Ernst
lm Rahmen der Erschließung des Berliner Umlandes durch Erweiterung des
S-Bahnnetzes konnte 1913, nicht zuletzt wegen des großen Berliner
Südwestkirchhofs, der S-Bahnhof Stahnsdorf eröffnet werden. Damit wurde die
Umgebung für eine Besiedelung interessant. (Unsere Postanschrift z.B. lautete dem-
entsprechend ,,Berlin-Stahnsdorf West“ Jägersteg 3). ln den zwanziger Jahren wurde
gegenüber dem Berliner Waldfriedhof an der ,,Chaussee nach Potsdam“
Kuhlmeyscher Wald zu Bauland und es entstand ein kleines Wohngebiet mit 39
Parzellen. Dieses wurde begrenzt durch den historischen ,,Stolperweg“ von
Gütergotz nach Stolpe, ein Gewässer, dem ,,Klaren Pfuhl“, einer Ackerfläche und
dem historischen Weg des Weideviehs ,,Alte Trift“, dessen Anbindung an die
Chaussee nun rechtwinklig gestaltet wurde. Der bisherige Verlauf hatte die neuen
Parzellen diagonal durchquert. An der Potsdamer Chaussee entstanden 13, am
Stolperweg 6 und am ,,Jägersteg“ und der ,,Alten Trift“ 20 Grundstücksparzellen. Der
erste Siedler war im Jahre 1932 der Malermeister Walter Fricke aus Steglitz, der im
Jägersteg Nummer 3 eigenhändig sein Wochenendhaus gleich massiv errichtete.
Noch im Beginn der Arbeiten kam mein Vater der Stuckateur Willi Ernst aus
Charlottenburg mit seiner jungen schwangeren Ehefrau vorbei. Sie waren von der
Landschaft so angetan, dass sie beschlossen noch vor der anstehenden Geburt ein
kleines Wohnhaus einzugsfertig zu bekommen. Das löste bei Vaters Stuckateur
Kollegen bei der Ufa lnteresse und eine Kettenreaktion aus. Arthur Schulz Nummer 1
und daraufhin auch Richard Schulz Nummer 13 siedelten nach Besichtigung prompt.
1933 baute der Kammersänger bei der Staatsoper Wilhelm
,,Sturm“ Schüßler sich ein hübsches Holzhaus fürs Wochenende. Schon nach
wenigen Jahren errichtete er sich ein solides stattliches Wohnhaus mit freiem Blick
über ein Getreidefeld in den Wald. In der Ecke nebenan auf No.4 baute sich der
Potsdamer Polizist Seidel eine Laube. Die Parzellen Potsdamer Chaussee 6 und 7
erwarben die Brüder Hans und Linus Rader aus Bayern. Sie bauten ein
gemeinsames großes Wohnhaus auf Parzelle 7. In der ,,Alten Trift“ No.3 baute der
Regierungsbeamte Eugen Finke sein Haus mit Einliegerwohnung für seinen
Großvater, in dessen Militaria Geschäft am Bassinplatz der ,,Hauptmann von
Köpenick“ sein Kostüm komplettierte. 1934 entstand auf No.4 das Giebelhaus von
Herrn Amtsrat Otto Dessow.
Der Abteilwagen
Nebenan auf No. 5 landete eine einmalige Kuriosität: ein alter ,,Abteilwagen“ der
Eisenbahn ohne Fahrgestell, doch mit Bremserhäuschen, als
Wochenendhaus. Zwei Berliner „Alte Fräuleins“ brachten es rätselhafterweise mit
den beschränkten technischen Mitteln der damaligen Zeit fertig, dieses
tonnenschwere Monstrum nach Gütergotz und über den Sandweg bis auf ihr
Grundstück transportieren zu lassen. Wer den komplizierten Abtransport nach der
Wende mit moderner Technik erlebt hat, kann die „Alten Damen“ für ihr damaliges
Husarenstück nur bewundern.
Auf dem Jägersteg 6 und 7 baute sich der Korvettenkapitän a.D. Konopke ein
hübsches massives kleines Wochenendhaus.
Nebenan auf No. 8 baute sich der Postangestellte Friebner aus dem Wedding ein
zweistöckiges Giebelhaus.
Das Grundstuck daneben, Nr. 9 erwarb Herr Grunthal für gärtnerische Nutzung.
An der Potsdamer Chaussee erwarb der ab 1915 in Neubabelsberg tätige Professor
Hans Ohmert (1890 — 1960) für sein Wohnhaus das Eckgrundstück und dazu die
angrenzenden 3 weiteren Parzellen. Auf der äußeren baute er sich ein mit Schilf
gedecktes Atelier dessen Fenster wegen ausgeglichener Beleuchtung alle nach
Norden ausgerichtet waren. Zwischen Wohnhaus und Atelier ließ er eine natürliche
Wasserstelle am ,,Klaren Pfuhl“ zu einem Größeren Teich mit einer Holzbrücke an
der schmalsten Stelle ausschachten. Es entstand ein schöner Naturpark dekoriert mit
einer Schilfhütte. Sein Nachbar am Stolperweg wurde der alte Freund und Kollege
meines Vaters bei der Ufa, der Standfotograf und Kunstmaler Arthur Hämmerer.
Nachbar von Prof. Ohmert an der Potsdamer Chaussee wurde gegenüber des
Friedhofs der Bildhauer Engel mit seiner Werkstatt.
Ein großer Fortschritt war die im Jahre 1936 erfolgte Elektrifizierung. Damit hatten
Handpumpe, Petroleumlampe und Plumpsklo ausgedient.
Die Kriegs- und Nachkriegszeit
Anfang des Krieges baute sich Herr Hahn auf dem Doppelgrundstück No. 10
unter schweren Bedingungen ein Giebelhaus. Kurz nach dem Einzug kamen
die Russen und Herr Hahn ging.
Auf Potsdamer Chaussee 2 fing Herr Moschkau, der den Kiosk Ecke Bahnhofstraße
betrieb, mit seiner Frau einen Hausbau an, von dem er noch im Kriege das
Kellergeschoß fertig bekam. Unter Nachkriegsbedingungen baute er darauf eine
Wohnung und später einen Anbau als Kolonialwarengeschäft. Damit versorgte das
alte und kranke Ehepaar die ganze Umgebung. Nebenan auf No. 4 baute sich Herr
Ohlhoff, der in Babelsberg am Findling eine Fahrradwerkstatt mit Laden hatte, ein
Wochenendhaus. Im Jägersteg 12 baute sich der Potsdamer Buchhalter Alfred Glahn
für Frau und Tochter eine Wochenendlaube. Es war eine Gemeinschaft aus Leuten,
die in einem kleinen hübschen Haus im Wald und im Grünen ihre Lebensqualität
suchten und fanden. Erwähnenswert ist, dass mit wohl nur drei Ausnahmen keiner
Sympathie mit der ,,Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“ hatte. Von
meinem Vater weiß ich z. B., dass es als ,,Der Führer“ einst das Babelsberger
Filmgelände Ufa besichtigte einen grotesken Zwischenfall gab. Als die
Sicherheitsleute die große heutige Caligari Halle räumte, übersahen sie in den
Kulissen den auf einer hohen Leiter arbeitenden Stuckateur Ernst. Als also der
Konvoi um eine Ecke kam, prallte er mit meinem herabgestiegenen Vater zusammen.
Dieser konnte gerade noch ,,Juten Tach“ sagen, bevor er von den Uniformierten zur
Seite gerissen und verhört wurde. Im Kriege, als die Alliierten ihre Bombenangriffe
tag und nachts flogen, wurden in vielen Gärten gedeckte Splitterschutz-Unterstände
gegraben, weil man fürchten musste, unter seinem eigenen Häuschen begraben zu
werden. Einige Wochenendbesucher verließen ihre Berliner Wohnung und wohnten
auf den Wochenendgrundstücken oder fanden Obdach bei Verwandten. Auf die
Grundstucke fielen jedoch keine Bomben, sondern in den umgebenden Wald mit
Glasschäden und vom Luftdruck aufgesprengten Türen.
Das fand ein Ende mit dem Einmarsch der Russen, die dann mit ihren Panjewagen
durch die Zäune in die Garten fuhren. Zuvor hatten einige Siedler eine Flucht gen
Westen diskutiert. Die Argumentation meines Vaters, dass er die Ereignisse nicht in
der Fremde, sondern lieber am Ort in vertrauter Umgebung überstehen könne, war für
die meisten überzeugend. Einige verließen jedoch ihre Grundstücke und den Ort vor
der ,,Einmauerung“ und kamen nie zurück. In verlassene Häuser zogen Vertriebene
und später auch ,,Regierungsdiener“ ein. Der Hunger zwang zu einer
landwirtschaftlichen Bewirtschaftung der Gärten und Haltung von Kleinvieh aller Art
für die Ernährung. Wegen der Sprengung aller Kanalbrücken des uns von der Stadt
trennenden Teltowkanals ,,zur Rettung der Hauptstadt gelangten die Leute auf
abenteuerlichen Wegen zu ihren Arbeitsplatzen nach Berlin. Die geraubten
Fahrräder fehlten sehr, Vater und ich fuhren mit der S-Bahn, die bis zum Wiederaufbau
der Kanalbrücke abschnittsweise wieder in Betrieb genommen werden konnte, über
Wannsee nach Babelsberg zur Arbeit und Schule. ln den Jahren bis zum Mauerbau
verließen noch viele Unzufriedene ihre Heimat für immer. Bis zur Wiedervereinigung
entstanden nur auf Jägersteg 11 ein großes Holzhaus als ,,Fertighaus“ für einen
Pfarrer und 1966 Potsdamer Chaussee 4 ein kleines Wochenendhaus für einen
Potsdamer Steinmetz . Dieses wurde 1975 für eine Forstangestellte umgebaut und
erweitert.
Die Nachwendezeit
Danach gab es einen Qualitätssprung, man sah Geltungsbedürfnis und das
Streben nach Größe. Der grüne Garten mit Waldbäumen gehörte nicht mehr zur
Lebensqualität. Grundstücke wurden halbiert und geviertelt. Die große Grenze war
gefallen, aber die Grenzen zum Nachbarn und zur Straße wurden häufig dicht
gemacht. Nachbarliche Hilfe wurde nicht mehr benötigt, es gab ja alles im Baumarkt,
wozu muss man dann noch mit dem Nachbarn reden? Positive Ausnahmen gibt es
jedoch und fallen angenehm auf. Schmerzlich ist für Stahnsdorf der Verlust seines
S-Bahnhofs. Die SED-Regierung riegelte Berlin durch ihre Mauer ab. Da eine
Vereinnahmung der Stadt nicht absehbar war, sollte auch die Erinnerung verschwinden.
Damit mußte auch das Bahnhofsgebäude weg — es wurde bei Nacht und Nebel
gesprengt. Heute heißt unsere Parole:
,,Stahnsdorf will seinen S-Bahnhof mit Anschluß nach Wannsee zurück“
Gütergotz Februar 2021 peter E R N S T